Dienstag, 28. Februar 2006

Vienna Calling 1/2006

...aus der Stadt, in der mit dem gestrigen Rosenmontag auch die Ballsaison zu Ende ging. Bis jetzt hat mich weder Anfang noch Ende dieser Saison interessiert, aber dieses Jahr habe ich auch mal einen Ball ausprobiert. Allerdings nicht den Opern- oder Rauchfangkehrerball, nicht den der Kaffeesieder oder Zuckerbäcker oder einen anderen der weit über 100 Bälle, sondern den der OSZE.

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"Wien ohne Ball ist wie Pisa ohne Turm und Paris ohne Eiffel."
("Das wahre Ich der Walzerstadt. Ein Ballbericht." Friederike Hassauer und Peter Roos, FAZ v. 23.02.2006)

Vienna Calling jetzt auch mit Bildern:
http://derherrmoeller.blogspot.com/
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Ein Vorhaben, das einen norddeutschen Nichttänzer natürlich vor ein paar Probleme stellt: Man (also in diesem Falle: ich) hat weder Frack noch kann man (:ich) Walzer (und auch eigentlich sonst nichts außer Pogo) tanzen. Ersteres lässt sich im Familienkreise lösen, der möllersche Smoking wird nach Wien expediert. Und zweiteres bekomme ich von meiner bezaubernden Begleitung in einem Schnellkurs auf dem heimischen Küchenparkett beigebracht. Jedenfalls soweit ich mir die Schritte merken kann.

Etwas komplizierter war die Kostümierung unserer auswärtigen Gäste, zumal diese nur englische Anzuggrößen vorweisen konnten, was beim ungarischen Schneider des Wiener Traditionsabendgarderobeverleihs Lambert Hofer nur auf Unverständnis stieß. Aber nach einigem Hin und Her von Beinlängen und Brustumfängen können auch diese Herren schlussendlich ihre Pinguinverkleidung am Vorabend des Ereignisses abholen. Die Damen hatten erstaunlicherweise alle die passende Garderobe bereits.

Der Abend des Balls. Vorher ein leichtes Dinner, denn der Ball ist keine "Fressage", dann in Schale werden, Masche umbinden, Kragen zupfen, Manschettenknöpfe und Abendkleider schließen und ins Taxi, wo der Chauffeur angesichts dünnen Ballkleids und Schühchen zuvorkommend erst einmal die Heizung höher dreht, dafür aber vergisst, das Taxameter einzuschalten.



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"Zwischendurch – ist das Taxi schon bestellt? Ein Großraumwagen für die Fülle der Falten des Rocks, bitte sehr! Häkchen für Häkchen fixiert der Herr der Dame im Rücken die Corsage, vorn entsteht das Decolleté aus dem Mieder, und nie genug Spiegel bei der Probe der Robe fürs Anlegen der Perlen. Fertig. Das Balltier scharrt mit den Hufen.
(Das wahre Ich der Walzerstadt.)
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Also, ab durchs Schneetreiben zur Hofburg, wo sich wahre Ströme von Chiffon aus Taxis und Fiakern auf den Heldenplatz ergießen. Dazwischen – es hieß schließlich "evening dress, black tie, uniform" – vereinzelt auch ein paar Herren im Schottenrock oder augenscheinlich altgediente Veteranen in Uniformen, die aussehen wie ausgedacht, dafür aber jede Menge Orden an der Brust haben.



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"Die Herren beschärpt und bunt bebändert, mit Ordensbrüsten bis zum Schulterschiefstand, ganz Hofrat, ganz Rittmeister in wechselseitiger Bestätigung ihrer Bedeutsamkeit. Die Galauniform kaum zu unterscheiden von der Feuerwehr. […] Eskorte für den Flankenschutz der Damen mit ihren Decolletés. Abenteuerliche Displays von Bonbonnière bis Bauchladen. Wahrend der männliche Blick auf die Oberweiten begehrlich taxiert, taxiert das Konkurrenzauge auf die Geschlechtsgenossin unverhohlen gereizt und neidvoll Fülle, Gewebe und Alter des gegnerischen Cups."
(Das wahre Ich der Walzerstadt.)
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Gedränge am Eingang, Schlange stehen, Mäntel an der Garderobe abgeben, endlich ein erstes Glas Sekt und die Eröffnung abwarten. Dann die Treppen gemessenen Schrittes erklimmen, an der Franz-Joseph-Büste vorbei, großer Saal, Einzug der Debütantinnen, Blitzlichtgewitter, Applaus. Weiter in den Festsaal, wo der reservierte Tisch auf uns wartet, erste Reihe, genau an der Tanzfläche, sehr schön, sehr eng, sehr warm. Und sehr flinke Kellner; so schnell wie die nachschenken kommt man mit dem Trinken gar nicht hinterher.



Die erwähnte Tanzfläche ist Gott sei Dank so "bumvoll" –wie es in Wien heisst-, dass es gar nicht auffällt, wenn ich meine ersten zweieinhalb Tanzschritte schon wieder verlernt habe. Die meisten anderen scheinen jedoch glücklicherweise auch eine sehr eigene Idee zu haben, welcher Tanz denn gerade passt. Zwischendurch zur Erfrischung noch ein wenig Wein oder eine Muschel vom belgischen Buffet, weitere Tanzversuche, vergebliche Suche nach der Mitternachtsüberraschung und irgendwann viel später dann abermals mehr oder weniger gemessenen Schrittes an Franz Joseph vorbei, diesmal treppab, Mäntel einsammeln, Taxi durch den Schnee und zurück an den heimischen Herd.



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"The day after, der Morgen danach.
Die Nappas schlapp, die Boa müde über der Stuhllehne, halbtot der Frack am Haken, der Apricot-Tüll zerknüllt. Ungern nur gibt sie das fremde Gefieder zurück, und mit der ortsansässigen Freude am Morbiden begibt sich der Ballist auf den Zentralfriedhof der Fräcke. Abdeckerei der Pinguine. Lustig fleddert der Leichenbeschauer zur Kontrolle die Taschen."
(Das wahre Ich der Walzerstadt.)
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Am nächsten Morgen ausgiebiges Frühstück und die – wenigstens für mich neue - Erkenntnis dass trotz aller "Hetz", Aufwand und Etikette das ganze doch eine ziemlich lustige Veranstaltung ist, auch über die Faszination des Grauens hinaus.

Aber vielleicht werde ich auch einfach nur alt.

Bis demnächst, viele Grüße, küss die Hand und Baba,
derherrmoeller

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Kann man ein Land ernst nehmen, das aussieht wie ein Schnitzel?
-Wienerische Schmankerl-

"Soll ich das einpacken auch, bittesehr?" - "Soll ich es einpacken?"
Flucht-Achterl - Wegbier, "One for the road and one to go."
Masche - Fliege
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